Vorgestern zeigte ich mein "Knitterkleid-aus-Jersey-Experiment". Ich liebe dieses Schnittmuster in allen Varianten, die ich bisher nähte, egal, ob geknittert oder ungeknittert, aus festem oder fliessendem Stoff. Es juckte mich in den Fingern, noch einen Schritt weiter zu gehen und es mit einem elastischen Stoff zu probieren.
Witzigerweise zeigte am gleichen Tag rosa p., ihren neuen Schnitt Liva, der für Jersey konzipiert ist, in einer Variante aus Webware und erklärte, was zu beachten ist, wenn das Material gewechselt wird. Das bringt mich dazu, auch noch mal ein paar Worte zu diesem Thema zu verlieren. Achtung, es folg ein langer Beitrag - ganz ohne Bilder!
Der Unterschied zwischen Webware und Jersey
Ich glaube, vielen Näherinnen ist zunächst der Unterschied zwischen Webware und Jersey nicht klar. Irgendwie wissen sie es, aber es kommt leicht zu Verwechslungen. Immer wieder höre ich die Unterscheidung "Jersey statt Baumwolle" - ich hoffe damit können wir nach diesem Blogpost aufhören.
Webware
Webware ist, wie der Name schon sagt, ein gewebter Stoff. Meist sind die Fäden - wie in einem Webstuhl, den ihr vielleicht als Kind mal hattet - gerade miteinander verwebt, das heißt es gibt senkrechte und waagrechte Fäden. Natürlich gibt es noch andere Möglichkeiten den Stoff zu verweben (verschiedene "Bindungen"). Aber grundsätzlich gilt, es gibt einen Kettfaden und einen Schussfaden und diese beiden Fäden werden miteinander verbunden.
Webware kann aus den unterschiedlichsten Materialien hergestellt werden. Die von Hobbynäherinnen am meisten verwendeten Webwaren bestehen aus Baumwolle oder Viskose.
Jersey
Jersey hingegen ist ein gestrickter oder gewirkter Stoff. Hier gibt es (in der Regel) nur einen Faden, der wie beim Stricken in sich verschlungen wird, so dass daraus ein Stoff entsteht. Die Produktion von Strickstoff oder Jersey könnt ihr euch wirklich vorstellen, wie große Strickmaschinen, die euch die Arbeit abnehmen aus einem Faden ein Materialstück herzustellen.
Auch Jersey gibt es aus den unterschiedlichsten Fasern. Die von Hobbynäherinnen am meisten verwendeten Jerseys sind aus: Baumwolle, Viskose, Wolle oder Kunstfaser.
Die Materialeigenschaften von Webware und Jersey
Sowohl die Herstellungsweise (gewebt oder gewirkt/gestrikt) aber auch die Faser bestimmen die Materialeigenschaften des Stoffes. Dazu später mehr. Denn jetzt geht es erst einmal um die Herstellungsweise.
Grob gesagt, ist ein Jersey stets elastisch und Webware unelastisch. Das kommt natürlich darauf an. Je nach Material und Herstellung kann das variieren, aber die Grundregel gilt.
Webware ist in der Regel unelastisch
Genau diese mangelnde Elasthizität wird bei der Herstellung eines Schnittmusters berücksichtig. Schnittmuster für Webware enthalten neben der Designzugabe (also wie locker soll das Kleidungsstück sitzen, damit es der DesignerIn gefällt) auch noch eine Bewegungszugabe, also zusätzliche Weite, damit in dem fertigen Kleidungsstück Bewegungen möglich sind. Mittlerweile gibt es viele Webwaren, die einen Elasthananteil haben. Elasthan ist eine Art Gummifaden, der Elastizität bringt. Das macht Kleidungsstücke nicht nur bequemer, sondern es passt dadurch auch mehr Menschen - bei Massenkonfektion ein ganz wichtiges Argument.
Es gibt eine weitere Möglichkeit, Webware elastisch zu machen: sie kann auch im schrägen Fadenlauf verarbeitet werden. Während Webware nicht nachgibt, wenn du sie in der Richtung der Fäden (senkrecht oder waagrecht) ziehst, gibt sie beim Ziehen in der Diagonale sehr wohl nach. Seit dem ich dies von Frau stokx gelernt habe, nähe ich bei körpernahen Kleidungsstücken aus Webware, so lange es das Stoffmuster zulässt, manche Teile aus Webware, um mehr Bewegungsfreiheit zu bekommen. Der Zuschnitt im schrägen Fadenlauf "kostet" natürlich mehr Stoff, aber die Schnittteile werden elastisch und fallen schöner.
Den schrägen Fadenlauf habt ihr vielleicht schon mal bemerkt, wenn ihr ein Kleidungsstück aus Webware nähtet und anschließend der Halsausschnitt abstand. Das ist ärgerlich! Das kann passieren, weil der Ausschnitt zum Teil im geraden und zum Teil im schrägen Fadenlauf zugeschnitten wird. Überall, wo die Schnittkante im schrägen Fadenlauf ist, kann sie sich leicht ausdehnen. Also vorsicht! Ein Trick diese Dehnung zu verhindern ist, dass ihr rund um die Ausschnittkanten in die Nahtzugabe mit Geradstich eine Stütznaht näht.
Aber: Egal, ob eine Webware durch die Verwendung des schrägen Fadenlaufes oder durch Zugabe von Elasthan dehnbarer wird - sie ist niemals so elastisch wie ein Jersey!
Jersey ist in der Regel elastisch
Gestrickter oder gewirkter Stoff ist elastisch, mehr oder weniger jedenfalls. Das kommt ein bisschen auf die Machart und das Material an. Wenn Kleidungsstücke für Jersey entworfen werden, dann werden sie mit wenig Designzugabe, keiner oder sogar negativer Bewegungszugabe designt, denn der Stoff gibt nach. Genau das lieben viele Hobbyschneiderinnen, denn beim Vernähen von Jersey kommt es nicht so sehr auf die Passform an. Der Jersey sucht sich seinen Weg und irgendwie passt es schon.
Diese Materialeigenschaft hat allerdings den Nachteil, dass sich Erfolgserlebnisse nicht beliebig wiederholt werden können, denn jeder Jersey verhält sich anders. Ist der Stoff mehr oder weniger elastisch, passt das schon mal genähte Kleidungsstück möglicherweise beim erneuten Nähen nach dem gleichen Schnittmuster, mehr oder weniger gut. Hier hilft nur Anfassen und Ziehen und ein Gespür dafür zu entwickeln, wie sich der befühlte Jersey verhalten könnte.
Ja, aber was ist nun? Kann ich Webware und Jersey tauschen?
Bei Hobbynäherinnen gibt es drei Fraktionen: die Jerseyfraktion, die Webwarefraktion und diejenigen, die Beides vernähen. Die Jerseyliebhaberinnen lieben die Unkompliziertheit des Materials: frau muß es nicht bügeln und irgendwie passt es schon. Die Beführworterinnen von Webware schätzen gewebte Stoffe dafür, dass sie leicht und flott zu verarbeiten sind (insbesonderen Baumwollwebware) und dass ihnen die Festigkeit des Stoffes Gestaltungsmöglichkeiten gibt, konturierte Kleidungsstücke zu arbeiten, die nicht unbedingt körpernah sein müssen (und damit jedes Röllchen zeigen). Beides hat seine Vor- und Nachteile. Ich gehöre zu der dritten Fraktion und verarbeite beide Materialien gleich gerne, aber ich tausche nur selten ein elastisches Material gegen ein unelastisches Material aus. Doch theoretisch geht das.
Wenn die Materialeigenschaften klar sind, dann kann ich tatsächlich bei manchem Schnitt das Material austauschen, aber ich muß aber Folgendes beachten:
Ein Webwareschnitt --> aus Jersey nähen
Ist ein Schnitt für Webware vorgesehen und ich will ihn aus Jersey nähen, dann wird das Kleidungsstück vermutlich zu weit. Ich sollte also mindestens eine Nummer kleiner wählen. Wenn es eine Fertigmaßtabelle gibt, ist das hilfreich bei der Größenwahl.
Nicht jedes Schnittmuster ist gleichermaßen geeignet - aber grundsätzlich ist es auch möglich Kragen oder viele Schnitteile, die über Teilungsnähte verbunden werden, aus Jersey zu nähen. Hier müsst ihr darauf achten, dass einige Teile mit Einlage verstärkt werden und dann entscheiden, welche Einlage ihr dafür wählt. Es gibt Einlagen, die auch elastisch sind und deswegen für Jersey empfohlen werden, aber wollt ihr z.B. einen elastischen Kragen? Ihr seid die Schneiderinnen und bestimmt den Look - ich wollte euch nur darauf hinweisen. Es kann sein, dass ihr die Anleitung nicht 1:1 befolgen könnt, sondern überlegen müsst, wie ihr das Alternativmaterial unterstützt oder anders verarbeitet, als die Umsetzung für Webware es vorsieht. Zum Beispiel nähe ich in Jerseykleider auf die Schulternaht oder/und in den rückwärtigen Halsausschnitt meist ein Stück Band, damit Schultern und Ausschnitt nicht leiern. Das ist in der Anleitung eines Schnittes, der für Webware vorgesehen ist nicht angegeben, aber ich mache es natürlich dann erst recht, wenn ich das Webware durch Jersey ersetze.
Bei der Entscheidung für oder gegen ein Material würde ich dann noch darauf achten, wie fliessend das Material sein sollte oder wieviel Stand es braucht, um die gewünschte Silhouette zu erreichen. Jersey wird niemals so viel Stand haben wie Webware und Viskose ist egal, ob gewirkt oder gewebt immer fließender als Baumwolle - es gilt also ein Gespür dafür zu entwickeln, was geht. Ein bisschen Experimentierfreude schadet dabei nicht.
Einen Jerseyschnitt --> aus Webware nähen
Möchte ich einen Jerseyschnitt in Webware nähen, dann muß ich dafür sorgen, dass ich in das Kleidungsstück hereinkomme und mich bewegen kann. Um die negative Designzugabe zu beachten, könnte ich eine Nummer größer nähen. Vielleicht reicht das schon, vermutlich aber nicht. Ich könnte auch entscheidende Teile, die besonders viel Bewegungen auszuhalten haben, wie zum Beispiel das Rückenteil, im schrägen Fadenlauf zuschneiden. Das kann funktionieren, aber es kommt drauf an. Je körpernaher das Design ist, umso schwieriger wird es, das Material in dieser Reihenfolge zu ersetzen.
Wahrscheinlich ist euch schon einmal aufgefallen, dass Kleidungsstücke aus Webware oft einen Reißverschluss oder Schlitze haben und jetzt wisst ihr warum. Ihr braucht Bewegungsfreiheit und müsst irgendwie in das Kleidungsstück hineinkommen. Wenn ihr ein Schnittmuster für Jersey also aus Webware näht, bedenkt, dass ihr Verschlüsse und Schlitze braucht!
Ganz besonders kritisch sind Ärmel und Armlöcher. In der aktuellen Mode werden enge Ärmel als schick empfunden, weil wir viele Kleidungsstücke aus Jersey tragen. Kleidungsstücke aus Jersey haben oft enge Ärmel und kleine Armlöcher. Außerdem werden Jerseyärmel oftmals gedehnt in das Armloch gedehnt. Das geht sehr viel einfacher, als einen Ärmel aus Webware einzusetzen, der Einhalteweite für mehr Bewegungsfreiheit hat. Wenn ihr ein Schnittmuster aus Jersey habt und dieses aus Webware nähen wollt, dann könnt ihr folgendes machen: Ihr nehmt einen Ärmel und das passende Armloch eines Schnittes aus Webware und bastelt dieses Armloch an den Jerseyschnitt an statt des ursprünglichen Ärmels oder Armloches. Das ist in meinen Augen die beste Methode. Alternativ könnt ihr ganz kurze Ärmel machen, da diese nicht so einengen wie lange Ärmel. Ihr könnt Puffärmel anbringen, in dem ihr die Armkugel aufschneidet uns so Weite einfügt, aber das verändert natürlich den Look. Manchmal funktionieren auch 3/4 lange Ärmel mit einem Schlitz, aber das ist der riskanteste Versuch. Oder aber, ihr lasst die Ärmel weg. Dann müsst ihr aber das Armloch mit Schrägband einfassen oder einen Armlochbeleg konstruieren.
Mein Fazit
Ich glaube, es ist mit etwas Erfahrung möglich, die Materialien auszutauschen. Variante 1: einen Webwareschnitt aus Jersey zu nähen, ist mit weniger Risiko und weniger Änderungen verbunden, als die zweite Variante. Aber optimal ist es auch nicht. Es hat schon seinen Grund, wieso die DesignerInnen Materialempfehlungen aussprechen. Sie haben sich schließlich bei der Entwicklung eines Schnittmsusters etwas dabei gedacht.
Andererseits sind wir ja auch deswegen Hobbyschneiderinnen, weil wir machen wollen, was wir uns erträumen. Deswegen finde ich es absolut spannend, Materialien zu tauschen und mit ihnen zu experimentieren. Und wenn ihr das, was ich über die Eigenschaften und den Tausch geschrieben habe beachtet, ist das Risiko, das etwas schief gehen kann, schon gar nicht mehr so groß.
Ich kann euch nur ermuntern, zu experimentieren und etwas über Materialien zu lernen - das geht ganz toll mit dem Stofflexikon von Frau Nahzugabe "Stoff und Faden". Es schadet auch nichts, etwas über die Konstruktion von Kleidungsstücken zu lernen. Denn wenn ihr mehr versteht, was ihr macht und wenn ihr genauer, wisst, wo ihr Weite benötigt, Formgebung möchtet und Elastizität braucht, kann das bei der Materialauswahl berücksichtig werden und damit die Trefferquote für ein Traumkleidungsstück erhöhen. Wenn ich in meinen Workshops zum Thema Schnittanpassungen spreche, dann üben wir zwar Theorie, aber da Material und Schnitt niemals getrennt voneinander betrachtet werden können, spielt auch das Material in den Workshops immer eine Rolle.
Je länger ihr näht, umso mehr werdet ihr ein Gefühl für Materialien und Schnittkonstruktion entwickeln, das Reinfälle seltener macht. So werden eure Nähwerke immer persönlicher und individueller. Bis dahin lest ihr einfach genau die Materialempfehlungen und überlegt, was die DesignerInnen sich dabei gedacht haben, denn frau lernt nie aus! Und das ist doch toll!
Je länger ihr näht, umso mehr werdet ihr ein Gefühl für Materialien und Schnittkonstruktion entwickeln, das Reinfälle seltener macht. So werden eure Nähwerke immer persönlicher und individueller. Bis dahin lest ihr einfach genau die Materialempfehlungen und überlegt, was die DesignerInnen sich dabei gedacht haben, denn frau lernt nie aus! Und das ist doch toll!