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Backlash

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In meiner Filterblase gibt es eine neues, weit verbreitetes Thema:  #fettlogik. Immer öfter lese ich auf allen Kanälen davon und ich bin irritiert. Diese Irritation in Worte zu fassen, gelingt nicht in 140 Zeichen auf twitter und auch hier, muß ich etwas weiter ausholen, denn meine Gedanken haben nicht nur etwas mit mir und der damit verbundenen Konfrontation mit dem Thema "Abnehmen" zu tun.

Nähbloggen ist für mich mehr, als reine Werkschau. In meinen Vorträgen sprach ich darüber, wie kraftvoll und stärkend ich Nähbloggen empfinde. Wenn auch die Einzelne einfach nur in ihr Blog schreibt und zeigt, was ihr wichtig ist, so sind wir doch durch gemeinsame Aktionen verbunden. Wir sind kein Verein, kein fester Zusammenschluss, jede kann kommen und gehen, wie sie will, aber wir sind durch zahlreiche Veranstaltungen, das kommentieren, zitieren und inhaltliche aufeinander beziehen miteinander verwoben. Das Internet machts möglich. Jede hat die Möglichkeit hat, das zu publizieren, was sie sagen möchte und durch Vernetzung werden diese Inhalte auch wahrgenommen. Viele Nähnerds sind durch ein Band der Sympathie über das reine Interesse am Austausch über das Nähen verbunden, das führt dazu, dass wir auch über andere Dinge sprechen und einander neue Impulse geben.

Irgendwann kapierte ich, dass es für mich in Nähblogs, die sich mit dem Nähen von Bekleidung beschäftigen, nicht nur um das Nähen geht. Mir wurde klar, dass es auch um Körper geht. Jedenfalls richtete ich den Fokus meines Interesses darauf, hörte auf, auf das Wunder zu hoffen, dass es Schnittmuster geben könnte, die auch mir"einfach so" passen könnten, setzte mich mit der Realität, also meinem Körper, auseinander und lernte etwas über Schnittmuster anpassen. Das war mir aber erst möglich, als ich kapierte, dass mein Körper nichts minderwertig, sondern einfach da ist, zu mir gehört und mich durchs Leben trägt.

Diese Selbstakzptanz wuchs in mir, durch das regelmäßige Lesen in Nähblogs. In ihnen fand ich ein ein Frauenbild, das die mich umgebenden medialen Bilder ergänzt und vor allem auch relativiert. Ich sehe eine Vielfalt an Frauenkörpern, die den Bildern, mit denen ich sonst in der Öffentlichkeit konfrontiert werde, etwas entgegensetzen. Das veränderte mich! Plötzlich gehörte ich mit meiner - sonst nicht mit dem Thema Mode in Zusammenhang gebrachten - Körperform dazu, war sichtbar, war nicht alleine und war normaler Teil des Ganzen. Mehr und mehr arbeitete ich für mich heraus, das ich es in der Hand habe, mich und meinen Körper zu bewerten und dass es möglich ist, mich  unabhängig von gesellschaftlichen Vorgaben zu machen. Das und das begleitende Nähen von Kleidung, in der ich mich mag, gab meinem Selbstbewußtsein ein stabiles Fundament. 2012 versuchten wir (Menschen aus dem MMM-Team)  unsere Analyse der gesellschaftlichen Bedeutung von Nähblogs bei der re:publica vorzustellen und zu diskutieren und auch, wenn wir dort kein Forum fanden, wurde es mir immer wichtiger, über diese Kraft, die den Nähblogs (oder Aktionen wie #609060) innewohnt, anderen zu berichten.


Doch seit einigen Wochen ist gefühlt alles anders. Seit einigen Wochen gibt es einen immer stärker werdenen Hype um #fettlogik in meiner Filterblase. Immer mehr Frauen werden von dem Virus erfasst, sind beseelt von den neuen Erkenntnissen, baden sich in Zuwendung und Lob ob ihrer Abnehmerfolge und immer stärker habe ich das Gefühl, dass die neue immer weiter greifende Überzeugung ist: wir haben uns geirrt "Selbstakzeptanz" und "wir machen uns die Welt, wie sie uns gefällt" funktioniert nicht. Wir sind erfolgreicher, wenn wir machen, was in ist und die Gesellschaft von uns erwartet.

Das würden die Beteiligten natürlich niemals so formulieren und das ist auch ihr gutes Recht. Es ist meine Interpretation. Jede hat ihre persönlichen Gründe und Erfahrungen, jede darf mit ihrem Körper machen, was sie will und jede darf auch darüber denken, was sie möchte. In dem Moment, in dem die Details aber regelmäßig öffentlich thematisiert werden, verlassen die persönlichen Gedanken das rein Private und werden öffentlich. Oder um es anders zu sagen: es ist gesellschaftsfähig, von den Anzahl der gelaufenen Schritte zu erzählen oder Essensmengen zu kommentieren. Die Häufigkeit und auch die Vernetzung dieser Gedanken schaffen ein neues Konstrukt, das auch auf diejenigen wirkt, die an den Gesprächen nicht teilnehmen. Je mehr Menschen sich an dem Thema beteiligen, um so mehr entsteht der Eindruck, dass es "das Richtige" ist - selbst bei denjenigen, die wie ich weder an "das Richtige" glauben (weil es eben das Eine nicht gibt), noch glauben, dass "Körperlogik" so einfach funktioniert, wie es postuliert wird.



Ich empfinde den öffentlichen Austausch über Abnehmlogik als Backlash. In der Häufigkeit, in der Beiträge dazu seit Wochen in meinen Kreisen auftauchen, hat es eine Wirkung und vermutlich nicht nur auf mich. Es ist einfach ein Unterschied, ob "die bösen Frauenzeitschriften" Signale zur Selbstoptimierung geben oder ob die Menschen, mit denen ich mich gerne austausche, es tun. Meine Freude über die Wirkung des neuen, von uns geschaffenen Frauenbildes, das für mich auch stets bedeutete "es ist völlig ok, Raum einzunehmen, auch wenn ich nicht dem gesellschaftlichen Ideal entspreche", wird seit einiger Zeit in erstaunlicher Häufigkeit mit Bemerkungen konfrontiert, die dieser Haltung diametral gegenüber stehen.

Für mich bedeutete Abnehmen, neben dem subjektiven Erlebnis der Veränderung, gesellschaftlich betrachtet eine Form von Anpassung und eine merkwürdige Form von "sichtbar werden, durch weniger werden". "Sich dünn machen" entspricht den gesellschaftlichen Konventionen. Wir bekommen signalisiert, dass wir erst richtig sind, wenn wir dünn sind und werden aufgefordert, uns anzustrengen. Wer nicht dünn genug ist, ist ein Looser. Selbst schuld, es ist ja so einfach, das zu ändern. Jede einzelne Zahlenmeldung aus dem Kreise der Abnehmlogikerinnen gibt mir, aufgrund der Häufigkeit der Beiträge und des gegenseitigen aufeinander Beziehens und Verstärkens, erneut diese Botschaft mit auf den Weg und stellt die mühsam gewonnenen Erkenntnis, die mir ein gutes Gefühl gibt, in Frage.

Ich kann das Abfeiern so gut verstehen: es fühlt sich grandios an, die simple Rechenaufgabe verstanden zu haben: "weniger essen = abnehmen" - als ich das letzte Mal 25 kg abnahm, wollte ich stante pede zur Ernährungsberaterin umschulen, weil ich so berauscht von dem Glück war, den heiligen Gral gefunden zu haben. Es fühlt sich so mächtig an, das Gefühl eines Werkzeuges zur Hand zur haben, das verspricht, alles gut zu machen. Endlich keine Diffamierungen mehr beim Arzt, endlich normal sein, endlich anerkannt zu sein, endlich gesehen werden, endlich schön sein. Ich kenne diese Sehnsucht so gut, dazu gehören zu wollen. Es gehört soviel Kraft dazu, anders zu sein.

Was blieb, ist eine Leidenschaft für warmes Gemüse, aber nachdem ich aufhörte 3x die Woche zu sporteln und mir auch mal was gönnte, ohne mich anschließend dafür zu kasteien, hatte ich wie alle Male zuvor mehr auf den Rippen. Ich bin nicht für ein strebsames Leben im Hamsterrad geschaffen und werde deswegen niemals zu den Menschen gehören, die unsere Gesellschaft als Maß der Dinge (vom Aussehen her und der damit verbundenen Charaktereigenschafte, die damit assoziert werden) nimmt. Doch ich habe mir erlaubt, trotzdem glücklich zu sein und mich gut zu finden. Die Frage ist, ob ich wirklich befugt dazu bin, einfach so, diese Entscheidung zu treffen. Wird es in Zukunft in unserer Gesellschaft toleriert werden, anders zu sein und Anders-sein gut zu finden?

"Als Backlash (dt. „Gegenschlag, Rückschlag“) bezeichnet man gegen als fortschrittlich erachtete Entwicklungen gerichtete Bestrebungen oder auch die Rückkehr konservativerWertvorstellungen sowie die Einflussgewinnung von dahingehend orientierten Kräften." Wikipedia über Backlash

Meine Irritation kann ich am besten mit Backlash beschreiben. Ich hatte das Gefühl, wir waren schon mal weiter. Während noch vor kurzem Vielfalt scheinbar ein Gut war, das unsere verwebte Comunity zu schätzen wusste, schleicht sich immer mehr die "Dünnsein-Mode" thematisch in unsere Gespräche. Jede so, wie sie möchte. Aber in der Menge der Beiträge, sehe ich einen Trend. Schlimmer noch: ich frage mich, wie ehrlich die gegenseitige Akzeptanz der Unterschiedlichkeit sein kann, wenn so viele das Hamsterrad der Selbstoptimierung, die in meinen Augen nur der Wirtschaft dient, auch noch feiern. Deswegen erschüttert mich, das, was einzelne eigentlich nur für sich tun, aber gemeinsam zum öffentlichen Thema machen. Und ich befürchte, dass Vielfalt als genereller Wert in jeglichen Lebensbereichen, noch weiter abhanden kommt und uns genau dies das Leben in den nächsten Jahrzehnten sehr schwer machen wird.


Meine Irritation verwandelte sich in das Bedürfnis darüber zu reden, als ich das Zitat von Journelle las. Ja, so ist es. Niemand lobt uns dafür stark und sichtbar werden, aber "dünne-machen" bekommt Applaus. Ich finde es klasse, das Journelle mit ihrem Blogbeitrag von gestern ein Gegengewicht zu den lauten Stimmen der Abnehmlogikerinnen gibt. Deswegen habe auch ich versucht, meine Gedanken in Worte zu fassen, um ihnen eine Stimme zu geben. Wir sind gesellschaftlich noch lange nicht so weit, wie ich es mir wünschen würde.

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