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Vom Stoffeltrüffeln und dem Nähnerdglück

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Ich kaufe gerne Stoffe in Berlin auf dem Markt am Maybachufer. Warum eigentlich? Eigentlich bräuchte ich gar nicht mehr so gierig sein und jede Berlinreise rund um einen Marktbesuch zu planen, arbeite ich doch mehrmals im Monat in einem Stoffladen. Es gibt viele Menschen, die weite Strecken auf sich nehmen, um genau in diesem Stoffladen zu kaufen. Was fasziniert mich so an dem Stoffkauf auf dem Markt?

Letztens sagte mein Mann zu mir "wenn du dein komplettes Stofflager (in allen Ecken der Wohnung) auflöst, dann kaufe ich dir richtig guten Stoff." Ach! Gierig begann mein Herz zu flattern, bis er die Aussagen schnell einschränkte in "einen richtig guten Stoff". Na, das ist natürlich keine Option!

Eigentlich habe ich genügend Stoff und bräuchte nichts. Das kennt ihr sicher. Und trotzdem geht doch nichts über Stoff jagen: eine Stoffquelle zu betreten, die Hand sanft über die Stoffe gleiten zu lassen, zu fühlen, zu betasten, den Stoff aufzufächern, um zu sehen, wie der Stoff wirkt, wenn er ausgebreitet ist oder sanft in Falten fällt. Es ist einfach großartig, Farben abzuscannen und Muster zu checken und damit Träume zu entwickeln, was daraus werden könnte. Stoff kaufen macht einfach Spaß.

Stoff kaufen und Stoff besitzen ist auch gar nicht das Problem. Das Schwierige ist nur, dass wir alle zu wenig Zeit haben, die Träume zu verwirklichen. Jeden Stoff, den wir kaufen, kaufen wir in dem festen Bewusstsein, einen Schatz gehoben zu haben. Wir wollen ihn haben und wissen genau, dass er uns glücklich macht. Deswegen ist der neuste Stoff auch stets der Schönste, denn die Träume verblassen im Schrank, je länger es her ist, dass wir den Traum geträumt haben.

Die vernünftige Lösung wäre es natürlich, nur noch ganz gezielt Stoff für ein konkretes Projekt zu kaufen, für das wir einen Anlass haben, zu dem es fertig gestellt sein muss und Zeitfenster geplant haben, in denen wir es verwirklichen. Wenn wir so vernünftig vorgehen würden, dann könnten wir uns auch den superduperqualitativen teuren Stoff leisten. Ich weiß noch, wie ich zusammenzuckte, als ich realisierte, dass ich fast 120 € für den Wintermantel-Walk ausgeben musste und überlegte, ob ich das wirklich tun sollte. Ich kaufte ihn, schließlich hatte ich im Vorfeld zwei Probemäntel genäht und brauchte einen Wintermantel. Was soll ich sagen: der teure Walk sieht auch nach drei langen Wintern, an denen der Mantel jeden Tag getragen wurde, immer noch aus, wie neu. Theoretisch weiß ich natürlich, dass guter Stoff lohnt.



Aber praktisch ist es auch immer wieder aufregend, Stoffe auf dem Markt zu kaufen. Gut sortierte Stoffgeschäfte langweilen mich eher. Auch bin ich überfordert, wenn es von einer Materialart zig verschiedene Varianten und Farben gibt. Zum Beispiel zu Mahlerstoffe gehe ich nur, wenn ich ein ganz konkretes Problem habe, wenn ich zum Beispiel einen Kombinationsstoff zu einem Traumstöffchen habe, das ich in ganz bestimmter Farbe und Qualität brauche. So etwa findet sich im Fachhandel, den ich genau dafür schätze. Aber den Einkaufsrausch bekomme ich woanders.

Ich mag es, auf dem Markt nach Schätzen zu suchen. Es gibt viel Mist und viele Plastikstoffe, aber die interessieren mich nicht. Auch auf dem Markt versuche ich, wie ein Trüffelschwein, die guten Qualitäten zu finden. Ich habe damit eine Erfolgschance von mehr als 50/50, je besser ich die Händler zu unterscheiden weiß, um so treffsicherer werde ich. Fabrikverkäufe liebe ich auch sehr, weiß ich doch, dass ein Markenhersteller von Bekleidung, ganz andere Ansprüche an Stoffe stellt, als der normale Stoffladeneinkäufer. Aber Fabrikverkäufe gibt es nicht auf Wunsch und schon gar nicht um die Ecke. Und in Fabrikverkäufen siegt oft das vernünftige Kriterium "gute Qualität"über den Wunsch nach außergewöhnlichen Farben und Mustern. Ist doch klar, eine Kollektion muss möglichst den breiten Geschmack treffen, da werden nicht so viele Experimente gebracht.

Im Stoffladen, in dem ich arbeite, wechselt die Ware ungefähr alle halbe Jahr. Dann gibt es einen neuen Katalog, eine neue Saison, neue Farben und Mustern. Wenn ich mich dann für etwas begeistere, zögere ich beim Kauf, wohlwissend, dass der gleiche Stoff noch Wochen später garantiert verfügbar ist. Das ist nur der halbe Spaß beim Kauf. Das Gefühl, ein Schnäppchen gemacht, einen Schatz ertrüffelt zu haben, stellt sich eher ein, wenn die Gelegenheit einmalig ist. Ich gebe zu, ich mag den Thrill.

Und ich mag tatsächlich auch das Gefühl, das meine selbstgemachte Kleidung nicht teuer ist. Es freut mich, wenn ein Kleid weniger als 30 Euro kostet und zwar deswegen, weil ich einen guten Stoff ertrüffelt habe, statt dafür Arbeitskräfte in Fernost auszubeuten. Ok, über die Stoffherstellung und die damit verbundenen Bedingungen weiß ich dann nichts, aber ich kann zumindest sicher sein, keine Näherin auszubeuten. Als Stoffverkäuferin kann ich einigermaßen einschätzen, welche günstigen Stoffe es lohnt, zu kaufen. Jeder Stoff, den ich kaufe, vernähe, oft trage und wasche lehrt ich mehr über gutes Material.

Nachdem ich auf dem Markt letzte Woche günstige Schnäppchen machte und herrliche Stoffe mit nach Hause brachte, gönnte ich mir noch einen Besuch im Nähkontor und ballerte das gesparte Geld für Knöpfe raus, was mich sehr sehr glücklich machte. Ok, manchmal schockt es auch mich, wenn die Kurzwarenabrechnung mal wieder das investierte Geld für den Stoff übersteigt, aber ich weiß genau, dass gerade ein tendenziell unspektakulärer, einfarbiger Stoff ganz besonders gewinnt, wenn er tolle Knöpfe hat. Kurzum: ich bin mit meinen Mitbringeln aus Berlin sehr glücklich!



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